Sie hatte wirklich schon einiges an Blamagen und Fettnäpfchentritten durchgemacht. Unlängst bat sie ihren Mann, Milchreis für sie zu besorgen und der brachte eben genau das mit nach Hause: Milchreis – anstatt der von ihr gewünschten Reismilch. Der letzte Fauxpas passierte ihr, als sie die Verkäuferin in der schicken Boutique am Graben fragte, ob sie denn die Rotwein-Bluse aus dem Schaufenster anprobieren dürfe. Die Verkäuferin fragte spöttisch: „Sie meinen wohl weinrot?“ Diese professionelle Freundlichkeit lehrte sie, dass man Rotwein trinkt und weinrot die Farbe einer Bluse ist.
„Die Leute hier bringen wirklich alles durcheinander. Sie lassen einfach die Präpositionen weg, fügen, so mir nichts dir nichts, einen Haufen einzelner Wörter zusammen und dann soll auch noch jeder die Logik dahinter verstehen.“ – Júlia regte sich furchtbar auf, doch sie gab sich nicht geschlagen. „Die deutsche Sprache trotzt allen mathematischen Gesetzen. Es gilt: Vertauscht man die Faktoren, so ändert sich auch das Produkt.“, dachte sie, während sie an dem Dialog bastelte, den sie gleich führen würde.
Da sie ein Problem mit der Gegensprechanlage hatte, prägte sie sich die Sätze, die sie sagen wollte, gut ein, sagte sich in Gedanken das mögliche Gespräch immer wieder vor und korrigierte dabei die ihr heiß geliebten Deklinationen.
„Ist das Wort Gegensprechanlage feminin, maskulin oder neutral? Was, wenn sie unfreundlich ist? Wie sagt man denn Vai se catar [Leck mich doch] auf Deutsch?“
Geewappnet mit einer Portion Mut klopfte sie bei der Nachbarin unterhalb, um sie zu fragen, ob sie dasselbe Schwierigkeiten hatte. Die alte Dame öffnete und war sehr freundlich, sie hörte Júlia zu:
„Haben Sie auch Probleme mit der Gegensprechanlage? Ich glaube, meine funktioniert nicht.“
Woraufhin die Nachbarin antwortete:
„Ich habe keine Ahnung, meine Liebe, wie soll ich das denn wissen? Ich bekomme schon seit über 10 Jahren keinen Besuch mehr …“
Da überkam Júlia ein Gefühl unglaublicher Verzweiflung, der Wunsch davonzulaufen, zu verschwinden. Aber sie konnte die Einladung der alten Dame auf einen Kaffee in ihrer Wohnung nicht ablehnen. Die Alte erzählte ihr ihre eigene Geschichte, und gleichzeitig die jener unzähligen anderen, die Júlia tagtäglich auf der Straße sah. Der Mann war gestorben, sie hatten keine Kinder … Einsamkeit als Normalzustand. Auf dem Rückweg in ihre Wohnung atmete Júlia schwer und verspürte ein beklemmendes Gefühl in ihrer Brust.
Als Werner am Abend nachhause kam, fand er sie mit sorgenvoller Stirn und roten Augen vor. Er verstand überhaupt nicht, was los war, als er ihr versprechen musste, dass sie nicht in diesem Land alt werden würden. Da wurde sie lauter und begann, aufgeregt und ängstlich im Zimmer auf und ab zu gehen.
„Wenn du unbedingt willst, dann bleib du da! Ich werde schleunigst von hier abhauen, bevor ich beginne, im Stadtpark Tauben zu füttern! Und zwar lange davor! Ehrlich gesagt, da sind mir die Tauben im São Bento-Park allemal lieber!“
„Aber was soll denn das jetzt, Júlia? Was ist denn passiert? War wieder irgendjemand unfreundlich zu dir? Hat dich irgendwer als «Ausländer» beschimpft? Hat sich die Nachbarin beschwert, dass es zu laut ist?“
Ohne seine Fragen zu beachten, fuhr sie mit ihrem Monolog fort:
„Da ertrag ich lieber den Kanalgestank in der Straße Cinco de Julho oder eine Pilzinfektion am Strand von Flexas, Dengue-Fieber im Jurujuba-Viertel …“
Werner war ganz verstört. Er konnte riechen, dass sie wieder etwas Gutes gekocht hatte. Mit einem Mordshunger im Bauch musste er diese hysterische Tussi ertragen, die nicht aufhörte laut zu gackern(plappern), als ob es auf einer Bühne stehen würde:
„… ich halte alles aus! Stinkende Achseln im Bus, lange Warteschlangen in der Bank, Stau auf der Rio-Niteroi Brücke, Geschirr und Wäsche mit der Hand waschen, alles kann ich ertragen!…“
Es war immer das Gleiche. Sie waren schon so lange zusammen, aber das Repertoire der kulturellen Überraschungen war unerschöpflich. Jedes Mal kam sie mit etwas Neuem, etwas Unerwartetem, etwas Unmöglichem, das ihm das Gefühl gab, er habe noch nichts gelernt, als wäre sie ihm immer noch so fremd wie am Anfang. Jedes Mal, wenn er dachte, er würde sie kennen, fing sie mit etwas noch absurderem, und er musste wieder bei Null anfangen.
Sie ging auf ihrer imaginären Bühne auf und ab:
„Gleich morgen werde ich den Rodrigo in diesem Maklerbüro anrufen. Ich bin mir sicher, er findet eine Eigentumswohnung für uns, eine mit so einer Dusche, die Elektroschocks verteilt, das Bett zwischen Einbauschrank und Tür gepfercht … ist mir alles egal, ich gebe mich schon mit irgendwas zufrieden … der laute Bus, der direkt unter dem Fenster fährt, mit Blick auf die favela, laute Musik die ganze Nacht! Scheißegal! Alles ist besser als an diesem todtraurigen Ort zu leben.“
„Júlia …“ — Aber sie redete weiter und ignorierte ihn.
„Ich nehme einen Kredit bei der Sparkasse, mein Onkel war dort mal Geschäftsführer, er legt sicher ein Wort für mich ein, mein Papa kann mir etwas Geld geben, deiner auch, wir machen drei Jahre lang keinen Urlaub, wir essen ein halbes Jahr lang nur Brot und Wurst, wir schaffen das, wir schaffen’s sicher … es ist mir alles scheißegal … nur ein paar Quadratmeter in Niteroi reichen mir!“
Er musste lauter werden:
„JÚLIA! Was ist los? Was ist denn passiert? Ich versteh dich gerade überhaupt nicht …“
Als säße er bei einer Physik-Prüfung, bei der keine Naturgesetze gelten, sah er in ihr Gesicht – verloren und verwirrt. Wo ist der Schalter? Wo ist der Schlüssel, die mathematische Formel, um diese Frau zu verstehen?
„Die Nachbarin aus dem ersten Stock war’s, die alte… – Werner atmete erleichtert auf:
„Ah! Die Nachbarin … Hör nicht auf sie, Julia. Die hat sie doch nicht alle! Was auch immer sie gesagt hat, vergiss es.“ – Werner hatte ihr das schon tausendmal gesagt. Wie kann man nur so empfindlich sein? Wie kann man sich nur so zu Herzen nehmen, was irgendwer Fremder sagt?
„Nein, nein, sie war total nett zu mir …“
„Und wo ist dann das Problem?“
Júlia dachte darüber nach, wie sie ihm das Geschehene so dramatisch wie nur möglich erzählen konnte, sodass er dasselbe fühlen konnte, was sie fühlte. Gut, das wäre vielleicht etwas zu viel verlangt gewesen, aber vielleicht war es ja möglich, ihm zumindest verständlich zu machen, wie ich, die Erzählerin, mich fühlte.
„Sie … – Júlia atmet kurz durch, ihr Gesicht voller Sorgenfalten. Ihre Hände suchen vergebens nach etwas in der Luft. Sie blickt durch das Fenster auf den Himmel. Es war so gut wie unmöglich, das zu bekommen, was sie wollte: Sein tiefstes Verständnis. Das wusste sie, denn auch ihre Liebe funktionierte so. Die Flamme lebte von diesem ewig Unbekannten, dem Unüberwindbaren, Unentzifferbaren, das sich im jeweils Anderen versteckte.
Schließlich endet es immer gleich: Er beruhigt sie, streicht ihr mit der Hand über den Kopf und sagt ihr, sie solle es doch bitte nicht so schwer nehmen … Beide kehren in ihre eigene Welt zurück und meinen, die Welt des anderen verstanden zu haben – als wären sie über das Wochenende verreist gewesen. Süße Illusion.
Sie blättert die auf dem Tisch vergessene Zeitschrift durch, er steckt die Nase in die Töpfe und genießt einmal mehr die Exotik eines Gerichts, das seine Frau gekocht hat. Polenta mit Hühnerherz-Gulasch. Liebe, die sich aus Verständnis und Abgründen nährt.
Sie fallen ins Bett. Sie wird von ihren Gefühlen geleitet. Er von Fakten. Unterschiedliche Welten werden zu einer. Der Abgrund wird gefüllt wie ein Fluss … der überläuft … Sie kommen.
An die Decke blickend, teilen sie sich schweigend eine Zigarette.
Er denkt an dieses Buch von einem amerikanischen Missionar, das er gelesen hat, über die Pirahã-Indianer: „Das glücklichste Volk der Welt kennt weder Zahlen noch Koordinaten, weder Zukunft noch Vergangenheit.“ Einen Moment lang dachte er, er wäre auf Drogen, er hätte schwören können, dass der Geruch des Urwalds im Zimmer lag. „Diese Amazonen…“
Sie denkt darüber nach, wie man dieses Problem lösen könnte: „Kanalgestank und Dengue-Fieber können warten. Elektroschock-Dusche auch. Ich habe eine bessere Idee. Morgen rufe ich Lina an, dass sie herkommen soll und sie soll den Knopf der Gegensprechanlage so lange drücken, bis ihr der Finger weh tut! Und die Klingel auch, sie soll klingeln, klingeln, klingeln! Und an meine Tür hämmern! Und wenn ich aufmache, werde ich mich in ihre Arme werfen und schreien vor Glück! Lina wird mich verstehen, sie wohnt schon seit mehr als 20 Jahren hier und wird nicht sagen, dass ich verrückt bin. Nein, wir sind nicht verrückt, verrückt sind die, verrückt sind … bin …“
Sie schlafen ein …
*Anmerkung: Campo de São Bento (Park), Cinco de Julho (Gasse) und Jurujuba (Bezirk) befinden sich in Niterói, einer Stadt, die an der Guanabara-Bucht gegenüber von Rio de Janeiro liegt.
P.S: Diese kurze Geschichte basiert auf die Übersetzungen von Studenten der Translationswissenschafts Institut der Uni Wien unter der Leitung von Dr. Alice Leal.
Tradução e revisão: Florian Dunkel, Leticia Gomes Ribeiro, Lisa Fernanda Pillinger, Magdalena Schätz, Philipp Drexler.
Revisão final: Catarina Ferreira, Leticia Gomes Ribeiro, Lisa Fernanda Pillinger, Melanie Patrizia Strasser, Petra Bevilaqua.